Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in der Zahnarztpraxis?
Vanessa Kohnert und Prof. Dr.-Ing. Kai DanielKünstliche Intelligenz verändert die Gesundheitsbranche – und macht auch vor Zahnarztpraxen nicht Halt. Doch was ist tatsächlich schon möglich? Wo bringt der Einsatz von KI echten Mehrwert, wo lauern Risiken – und für wen lohnt sich die Investition überhaupt? Ein Überblick.
Diagnose per Algorithmus, Planung per Chatbot, Dokumentation per Sprachassistent: KI verspricht auch in Zahnarztpraxen echte Erleichterung. Aber welche Rolle spielt KI heute schon und was bringt wirklich etwas – und wie steigen Sie am besten ein?
Technologische Entwicklungen: KI als Gamechanger
Die mathematischen Grundlagen neuronaler Netze wurden bereits in den 1940er-Jahren mit dem McCulloch-Pitts-Modell geschaffen. Dennoch blieb ihr praktischer Einsatz lange begrenzt – vor allem aufgrund mangelnder Rechenleistung. Erst mit der Verfügbarkeit leistungsstarker und zugleich kostengünstiger Grafikprozessoren (Graphical Processor Units, GPUs) ab etwa 2010 konnte der Durchbruch moderner Künstlicher Intelligenz (KI) gelingen.
KI umfasst eine Vielzahl algorithmischer Verfahren, doch insbesondere neuronale Netze haben sich als treibende Kraft in Bereichen wie der Bildverarbeitung und Sprachmodellierung erwiesen. Die zugrunde liegenden Modelle basieren auf Operationen der linearen Algebra, wie etwa Matrixmultiplikationen, die während des Trainingsprozesses millionenfach und hochgradig parallel ausgeführt werden müssen. Für diese Art von Berechnungen bieten GPUs mit ihrer parallelen Architektur eine optimale Plattform, da sie identische Rechenoperationen gleichzeitig auf Tausenden von Kernen ausführen können.
Sie wollen mehr zu Künstlicher Intelligenz wissen?
Wie begann die Geschichte der Künstlichen Intelligenz? Welche Phasen der KI gibt es und in welcher dieser Phasen befinden wir uns? Welchen Nutzen hat KI in der Zahnarztpraxis und welche Chancen könnte das Metaversum in der Zahnmedizin bieten? In unserer zweiteiligen Serie zu künstlicher Intelligenz lesen Sie noch mehr zu Künstlicher Intelligenz und der Computer Vision in der Zahnmedizin. Hier finden Sie Teil 1 und Teil 2 der Serie.
Diese technologische Basis ermöglichte das Training leistungsfähiger KI-Modelle, die heute zunehmend auch in der Zahnmedizin Anwendung finden. Transformer-Architekturen, 2017 von Vaswani et al. eingeführt, sind eine Weiterentwicklung neuronaler Netze und die Grundlage für Large Language Models (LLMs), die wir als Produkte in Form von ChatGPT, Grok, DeepSeek, Gemini, Copilot usw. kennen.
Large Language Models in der Zahnmedizin
LLMs basieren auf „Self-Attention-Mechanismen“, die es dem Modell ermöglichen, relevante Teile von Eingabedaten – wie Sätze in Patientenberichten – gezielt zu priorisieren, indem sie Kontext und Beziehungen zwischen Wörtern analysieren. In der Zahnmedizin können selbst nicht speziell auf zahnmedizinische Anwendungen trainierte LLMs schon einfache Anamnesen auswerten, Behandlungsempfehlungen formulieren oder Berichte automatisch zusammenfassen. Ihr Training erfolgt herstellerseitig auf riesigen Textmengen.
Weitere Effizienzsteigerungen sind durch so genannte Multimodale KI-Systeme zu erwarten, die verschiedene Datenquellen wie Bilder, Texte und Sprachbefehle verknüpfen. In der Zahnmedizin ermöglicht dies perspektivisch die Integration von Röntgenbildern, Patientenanamnesen und Laborwerten, um personalisierte Behandlungspläne zu erstellen.
Diese ganzheitliche Herangehensweise steigert die Präzision und verbessert perspektivisch die Behandlungsergebnisse.
Warum ist KI nur in Verbindung mit dem Menschen anwendbar?
Im Vergleich zu regelbasierten Systemen, wie traditionelle Bildanalysesoftware mit festen Schwellenwerten, oder statistischen Modellen bieten neuronale Netze eine höhere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an komplexe Daten. Dennoch liefern sie oft nicht-optimale Ergebnisse aufgrund von Herausforderungen:
Überanpassung: Modelle können sich zu stark an Trainingsdaten anpassen und scheitern bei neuen, unbekannten Daten (z. B. Röntgenbildern von anderen Geräten).
Datenabhängigkeit: Die Qualität der Ergebnisse hängt von der Vielfalt und Menge der Trainingsdaten ab. In der Zahnmedizin sind Datensätze oft begrenzt oder unausgewogen.
Interpretierbarkeit: Im Gegensatz zu regelbasierten Systemen, die transparente Entscheidungsregeln bieten, sind neuronale Netze oft „Black Boxes“, was das Vertrauen von Zahnärzten einschränken kann.
Fehleranfälligkeit: Falsch-positive oder falsch-negative Vorhersagen können schwerwiegende Konsequenzen haben, etwa bei der Erkennung von Wurzelspitzenläsionen.
Regelbasierte Systeme oder einfache statistische Modelle können in spezifischen, gut definierten Szenarien (z. B. standardisierte Bildfilter) zuverlässiger sein, sind aber weniger flexibel. Neuronale Netze übertreffen diese Systeme in komplexen Aufgaben, erfordern jedoch eine sorgfältige Validierung.
Die Bewertung der Genauigkeit und Präzision neuronaler Netze erfolgt häufig mithilfe der Konfusionsmatrix. Diese Matrix zeigt, wie gut ein Modell Vorhersagen trifft, indem es tatsächliche und vorhergesagte Klassen gegenüberstellt. Für eine binäre Klassifikation (z. B. „Karies vorhanden“ versus „keine Karies“).
Um die Leistungsfähigkeit von KI-Systemen objektiv zu bewerten, sollten Hersteller vor der Einführung dazu aufgefordert werden, die Ergebnisse der Konfusionsmatrix (Abb. unten) für verschiedene Aufgaben bereitzustellen. Diese Matrix sensibilisiert zudem für den verantwortungsvollen Umgang mit KI, da sie deutlich macht, dass stets mit Fehlern gerechnet werden muss.
Konfusionsmatrix: Wahre Positive (TP): Korrekte Erkennung von Karies; Falsche Positive (FP): Falsche Kariesdiagnose; Falsche Negative (FN): Übersehene Karies; Wahre Negative (TN): Korrekte Erkennung von „keine Karies“.
Praxis-Ziele mithilfe von KI erreichen
Ein Fahrplan ist hilfreich - sowohl um persönliche Vorsätze zu erreichen als auch strategische Unternehmensziele. Wie die Integration von Künstlicher Intelligenz Ihnen dabei helfen kann, lesen Sie hier.
Wo findet KI in der Zahnarztpraxis Anwendung?
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Zahnarztpraxis transformiert die Arbeitsweise und bietet neue Möglichkeiten für Effizienz, Präzision und Patientenzufriedenheit. KI-Technologien bieten nicht nur Effizienzgewinne, sondern unterstützen klinische Entscheidungen, optimieren Prozesse und stärken die Patientenzufriedenheit. Basierend auf den acht Kernfeldern des Praxisalltags zeigt sich ein umfassendes Spektrum – von der ärztlichen Diagnostik bis hin zum Digitalmanagement.
Anwendungsgebiete für KI in der Zahnarztpraxis
Ärztliche Behandlung: Diagnostik, Therapie, Prävention, Überweisungen, Notfallversorgung
Praxismanagement: Personal, Finanzen, Material, Infrastruktur, Qualitätsmanagement
Patientenmanagement: Terminplanung, Patientenaufnahme, Kommunikation, Aktenführung, Datenschutz
Abrechnung und Versicherung: Krankenkassenabrechnung, Privatabrechnung, Kassenkorrespondenz, Regressprüfung
Hygiene- und Sicherheitsmanagement: Hygiene, Arbeitssicherheit, Abfallentsorgung. Infektionsschutz
Dokumentation und Berichtswesen: Medizinische Dokumentation, Arztbriefe, Bescheinigungen, Statistiken
Marketing und Öffentlichkeitsarbeit: Patientenbindung, Reputation, Aufklärung, Netzwerkpflege
IT- und Digitalmanagement: Praxissoftware, Telemedizin, Cybersecurity, Digitalisierung
Im Bereich der ärztlichen Behandlung (1) ermöglicht KI fortschrittliche Diagnostik, Therapieplanung und Notfallversorgung. Besonders hervorzuheben ist die Bildgebung und -analyse, wo automatisierte Auswertungen von Röntgenbildern – etwa zur Detektion von Kariesläsionen, parodontalen Entzündungen oder anomalen Befunden – durch hochpräzise, maschinelle Lernverfahren unterstützt werden. Volumetrische Analysen von 3D-Scans optimieren die kieferorthopädische Planung und präimplantologische Präzisionsmessungen, während KI-gestützte Bildoptimierungen Artefakte eliminieren und die Schärfe erhöhen, um frühzeitige Erkennung oraler Pathologien wie Tumor-erkrankungen zu fördern.
In der Behandlungsplanung bieten KI-basierte Entscheidungsunterstützungssysteme evidenzbasierte Diagnosesicherung, die zur Erstellung individualisierter Therapieprotokolle für kieferorthopädische Korrekturen oder prothetische Versorgungen beitragen. Virtuelle Simulationen von okklusalen Anpassungen ermöglichen eine präoperative Visualisierung des Behandlungsergebnisses, während algorithmische Optimierungen chirurgischer Eingriffe, insbesondere bei alveolärer Augmentation und Implantation, die intraoperative Genauigkeit steigern.
Mit KI gegen den Fachkräftemangel?
Wie Sie unter anderem mit Künstlicher Intelligenz Probleme lösen können, die durch den Fachkräftemangel in Zahnarztpraxen entstehen - und was Sie dabei unbedingt beachten müssen, lesen Sie hier.
Das Patienten- und Praxismanagement (2) profitiert von KI-gestützter Terminplanung und -optimierung, die dynamische Kapazitätsanpassungen ermöglicht. Automatisierte Kommunikationssysteme, wie Spracherkennungsmodule für therapiebegleitende Dokumentation, reduzieren den administrativen Aufwand, während die KI-basierte Ressourcenallokation die Material- und Personalplanung effizienter gestaltet. Trotz bestehender Praxismanagement-Lösungen und Add-on Lösungen zur Terminplanung muss die Arbeitseinsatzplanung in der Praxis noch vorwiegend manuell durchgeführt werden. Spontane Ausfälle (z. B. durch kurzfristige Krankmeldungen) stellen Zahnarztpraxen regelmäßig vor Herausforderungen, wenn eingespielte Duos im Behandlungszimmer nicht aufgebrochen werden oder eine Umbestellung von Patienten vermieden werden soll.
Wie kann Künstliche Intelligenz bei der Abrechnung in der Zahnarztpraxis unterstützen?
In der zahnärztlichen Abrechnungspraxis (4) stellt die variierende Bewertung identischer Leistungen bei unterschiedlichen Patienten eine häufige, jedoch komplexe Herausforderung dar. Grundsätzlich sind zahnärztliche Leistungen individuell zu bewerten, da Umfang, Schwierigkeit und Zeitaufwand stets patientenspezifisch variieren. Diese Individualisierung ist gesetzlich legitimiert, muss jedoch systematisch dokumentiert und nachvollziehbar begründet sein, um sowohl medizinisch-fachlichen als auch abrechnungsrechtlichen Anforderungen zu genügen.
Die Abrechnung erfolgt im GKV-Bereich nach dem BEMA (Bewertungsmaßstab zahnärztlicher Leistungen), welcher auf sozialrechtlichen Vorgaben (§ 87 SGB V) beruht und eine Pauschalierung der Vergütung vorsieht. Hier ist der Spielraum gering – Leistungen sind meist mit festen Punktzahlen hinterlegt und lassen keine Differenzierung zu. Bei Leistungen, die sowohl im BEMA als auch in der GOZ (Gebührenordnung für Zahnärzte) enthalten sind, greift bei GKV-Versicherten grundsätzlich der BEMA, es sei denn, es liegt eine schriftliche Vereinbarung über die Anwendung der GOZ nach § 8 Abs. 7 BMV-Z vor (z. B. bei Verlangensleistungen).
Im Bereich der Privatliquidation (PKV) hingegen erlaubt die GOZ (§ 5 Abs. 2 GOZ) eine Differenzierung nach Schwierigkeit, Zeitaufwand und Umständen der Ausführung, sodass ein und dieselbe Leistung – etwa eine PZR oder Füllungstherapie – unterschiedlich bewertet und mit variierenden Steigerungsfaktoren abgerechnet werden kann. Der Regelsteigerungssatz beträgt den 2,3-fachen Satz, kann jedoch sachlich begründet auf das 3,5-fache angehoben werden (§ 5 Abs. 2, § 10 GOZ).
Problematisch wird es, wenn...
die gleiche Leistung bei ähnlichen Fällen unterschiedlich bewertet wird, ohne dass dies dokumentiert ist, und
systematisch unter dem möglichen Steigerungsfaktor abgerechnet wird, wodurch Honorarverluste entstehen.
An dieser Stelle setzt der Einsatz von KI-Systemen an: Durch strukturierte Analyse der Falldaten kann eine gleichmäßige, regelbasierte Leistungsbewertung gewährleistet werden. KI kann historische Bewertungsmuster analysieren, Abweichungen erkennen und auf Unter- oder Überbewertung hinweisen. Zudem kann ein automatisiertes Abrechnungsfeedbacksystem vor Abrechnungslücken warnen, sodass kein Honorar ungenutzt bleibt.
Entscheidungsfindung und Recherche in der Zahnarztpraxis mithilfe von KI
S3-Leitlinien der AWMF und interne Standard Operating Procedures (SOPs) werden durch den Einsatz LLM-gestützter RAG-Systeme (Retrieval-Augmented Generation) kontextsensitiv und praxisnah zugänglich, wodurch ZahnärztInnen einen evidenzbasierten Zugriff auf aktuelle Richtlinien und standardisierte Abläufe erhalten. Diese Systeme integrieren große Sprachmodelle mit Retrieval-Mechanismen, um spezifische Informationen aus umfangreichen Datenbanken, wie z. B. präventiven Behandlungsempfehlungen oder Protokollen für sterile Arbeitsumgebungen, in Echtzeit bereitzustellen und an individuelle Patientenfälle anzupassen. Medizinische Fragestellungen oder Therapiesituationen können vor diesem Hintergrund in natürlicher Sprache eingegeben werden, worauf das KI-System relevante Passagen aus hinterlegten Leitlinien oder Praxisstandards identifiziert, aggregiert und als präzise Handlungsempfehlung ausgibt – vollständig referenziert und rechtssicher dokumentierbar.
Die Vorteile sind Zeitersparnis durch Wegfall manueller Recherchen, erhöhte Rechtssicherheit durch konforme Entscheidungsprozesse nach S3-Leitlinien sowie Qualitätssicherung durch konsistente Anwendung von SOPs bei wiederkehrenden Abläufen (z. B. bei Implantatprotokollen, Hygieneschritten, Recall-Strukturen). Nicht zu vernachlässigen ist die KI-basierte Assistenz bei Schulung und Onboarding von Praxispersonal durch abrufbare, verständlich formulierte Handlungsabläufe.
Die technische Umsetzung erfolgt durch Integration eines KI-gestützten Assistenzsystems in die vorhandene Praxis-IT (z. B. in der digitalen Patientenakte oder Praxissoftware). Über standardisierte Schnittstellen (z. B. FHIR oder HL7 CDA) können medizinische Falldaten semantisch erfasst und mit den passenden Passagen aus den Leitliniendatenbanken und SOP-Verzeichnissen verknüpft werden. So entsteht eine dynamische, patientenindividuelle Entscheidungshilfe die evidenzbasiertes Wissen direkt in den Behandlungsprozess einbettet.
Weitere Anwendungsbereiche umfassen das Hygiene- und Sicherheitsmanagement (5), Dokumentation und Berichtswesen (6), Marketing und Öffentlichkeitsarbeit (7) und auch das IT- und Digitalmanagement (8).