Interview: Warum Menschen mit Migrationsgeschichte eine schlechtere Mundgesundheit haben
Wiebke PfohlLaut Studien haben Menschen mit Migrationsgeschichte eine signifikant schlechtere Mundgesundheit als Menschen ohne Migrationsgeschichte. Welche Zugangsbarrieren existieren, wie gesundheitliche Ungleichheiten verringert werden könnten und was Zahnärztinnen und Zahnärzte tun können, erklärt Priv.-Doz. Dr. med. dent. Ghazal Aarabi, MSc, leitende Oberärztin und Forschungkoordinatorin an der Poliklinik für Parodontologie, Präventive Zahnmedizin und Zahnerhaltung des UKE, im Interview.
Priv.-Doz. Dr. Ghazal Aarabi, MSc
Priv.-Doz. Dr. med. dent. Ghazal Aarabi, MSc ist leitende Oberärztin und Forschungskoordinatorin an der Poliklinik für Parodontologie, Präventive Zahnmedizin und Zahnerhaltung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Ihre Projekte MuMi und MuMi+ zur Förderung der Mundgesundheitskompetenz werden vom Innovationsausschuss des G-BA gefördert. Aarabi leitet weitere Projekte, etwa zu den oralen mikrobiellen Profilen der Parodontitis und deren Beziehungen zu kardiovaskulären Erkrankungen und dem Zusammenhang zwischen Parodontitis, Hirnstruktur und kognitiver Hirnfunktion – zwei Projekte, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden.
Frau Priv.-Doz. Dr. Aarabi, Sie sind Erstautorin eines Kapitels zur Mundgesundheit von Menschen mit Migrationsgeschichte in der jüngst erschienenen Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6). Wie ist die Studienlage in diesem Bereich?
Der Großteil der bisherigen Studien bezieht sich auf Kinder und Jugendliche. Für Erwachsene mit Migrationsgeschichte ist die Datenlage dagegen eher rar. In der DMS 6 wurde nun erstmals der Migrationsstatus erhoben.
Besonders zur Mundgesundheitskompetenz - also zur Fähigkeit von Personen, Informationen zu beschaffen, zu verarbeiten, zu verstehen und zu nutzen, die sie in die Lage versetzt, angemessene Entscheidungen in Bezug auf ihre Mundgesundheit zu treffen – gibt es in Bezug auf Menschen mit Migrationsgeschichte nur wenige Studien. Diese ist aber besonders wichtig für eine gute Mundgesundheit.
Um gesundheitliche Ungleichheiten zu beschreiben und gleiche Chancen für alle auf dem Gebiet der Mundgesundheit zu erreichen, besteht nach wie vor ein erheblicher Bedarf an Forschung und der Entwicklung von Maßnahmen zur Steigerung des Wissens und zur Verbesserung des Mundhygieneverhaltens. Eine erste Interventionsstudie zur Steigerung der Mundgesundheitskompetenz und der Mundgesundheit von Erwachsenen mit Migrationsgeschichte haben wir mit der Hamburg-basierten MuMi-Studie durchgeführt. Zurzeit arbeiten wir an dem Nachfolgeprojekt.
Welches Bild zeichnen die vorhandenen Studien?
Die Daten der DMS 6 zeigen eine signifikant schlechtere Mundgesundheit bei Menschen mit Migrationsgeschichte in allen Alterskohorten. Dazu zählen eine höhere Kariesprävalenz, eine geringere Zahnputzfrequenz sowie ein stärker beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten. Unsere Daten aus dem MuMi-Projekt bestätigen diese Befunde bei Erwachsenen. Personen der 1. Generation, die eigene Migrationserfahrung aufweisen, schneiden dabei schlechter ab als Personen der 2. Generation.
Wie wird Migrationsgeschichte definiert?
Die Forschenden um Aarabi orientieren sich bei der Definition von Migrationsgeschichte am Mikrozensus, so die Expertin. Als zentrale Variable zur Definition des Migrationsstatus nutzen sie den Geburtsort. “Als Menschen mit Migrationsgeschichte gelten in unseren Analysen Immigrant:innen und die Nachkommen von Immigrant:innen, also Personen, die selbst nicht in Deutschland geboren oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind”, sagt Aarabi, “Personen mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil zählen wir nicht zur Gruppe mit Migrationsgeschichte, da sie in der Regel einen höheren Grad der Akkulturation haben.”
Welche Ursachen dafür ergeben sich aus bisherigen Forschungen?
Menschen mit Migrationsgeschichte scheinen nicht gleichermaßen von Angeboten zur Gruppen- und Individualprophylaxe zu profitieren wie Menschen ohne Migrationsgeschichte. Aus eigenen Untersuchungen und aus der Literatur wissen wir, dass Menschen mit Migrationsgeschichte verschiedenen Zugangsbarrieren gegenüberstehen. Es bräuchte hier mehr zielgruppengerechte Interventionsmaßnahmen.
Welche Zugangsbarrieren sind das?
Es existiert eine Vielzahl von Barrieren, die den Zugang zur zahnärztlichen Versorgung erschweren können. Insbesondere bei Personen mit eigener Migrationserfahrung, die eventuell noch nicht lange in Deutschland leben, zählen dazu unter anderem ein mangelndes Wissen über das deutsche Gesundheitssystem, fehlende Informationen über die finanzielle Unterstützung und Schwierigkeiten, richtige Informationen zu filtern.
Ein wichtiger Aspekt sind hierbei oftmals fehlende Sprachkenntnisse. Denn für den Zugang und die Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen spielt die Sprache eine Schlüsselrolle. Durch Kommunikationsprobleme kann die Aufklärung eingeschränkt und die Diagnosestellung aufgrund fehlender Informationen erschwert werden. Die Kommunikation ist außerdem essentiell, um eine partizipatorische Entscheidungsfindung von Seiten der Patient:innen und ein vertrauensvolles Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis zu erzielen. Verhaltensänderungen sind ebenfalls schwieriger umsetzbar, da aufgrund der Kommunikationsdefizite die Relevanz dieser nicht deutlich werden kann. Dies kann sich negativ auf den Therapieerfolg auswirken und somit die Zufriedenheit der Patient:innen als auch der Zahnärzt:innen beeinflussen. Hinzu kommt, dass viele Patient:innen aufgrund von Sprachbarrieren gar nicht erst zum Zahnarzt gehen oder umgekehrt einige Praxen, die Patient:innen ohne Dolmetscher:innen nicht behandeln können.
Neben der Sprache werden der Stellenwert der Mundgesundheit und die Gesundheitssozialisation als wichtige Barrieren für eine gute zahnärztliche Versorgung diskutiert. Andere Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Prävention können sowohl einen Einfluss auf die Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen als auch auf die Kommunikation zwischen Patient:innen und Zahnärzt:innen haben. Erwartungen an die Gesundheitsversorgung und das Bewusstsein für die Bedeutung der Mundgesundheit können aufgrund verschiedener Sozialisierungen zu Gesundheitsthemen variieren, was sich wiederum auf das Gesundheitsverhalten auswirken kann. Während wir in Deutschland zum Beispiel eine präventiv-orientierte Inanspruchnahme anstreben, mag der Präventionsgedanke in anderen Herkunftsländern anders sein. Nicht alle Länder haben außerdem das gleiche Angebot an Präventionsmaßnahmen, die von der Krankenversicherung übernommen werden. In vielen Ländern müssen Zahnarztbesuche und -behandlungen von den Patienten:innen selber bezahlt werden. Das fördert natürlich ein eher beschwerdeorientiertes Inanspruchnahmeverhalten.
Welche Lösungen und Lösungsansätze gibt es schon?
Wichtige Ressourcen zum Abbau sprachlicher Barrieren sind mehrsprachige Patient:inneninformationen, Aufklärungsbögen oder Fragebögen zur Notfallbehandlung. Auch die Verwendung von bildgebender Sprache ist wichtig, zum Beispiel für die Diagnostik von Beschwerden oder Mundhygieneanleitungen. Außerdem halte ich den Einsatz von professionellen Dolmetscher:innen für effektiv. Die Bedeutung dieser für eine angemessene Kommunikation mit Patient:innen mit eingeschränkten Sprachkenntnissen ist bereits allgemein bekannt. Im Gegensatz zu Übersetzungsprogrammen wie Google Translate oder dem Einsatz von Angehörigen der Patient:innen als Ad-hoc-Übersetzer:innen, kann beim Einsatz von professionellen Dolmetscher:innen eine korrekte Übersetzung medizinischer Begriffe und Anweisungen gewährleistet werden. Die Arbeitsgemeinschaft Segemi „Seelische Gesundheit, Migration und Flucht e.V.“ bietet in Hamburg einen Dolmetschpool für die ambulante psychotherapeutische und fachärztliche Versorgung.
Neben der Überwindung sprachlicher Barrieren sind Programme zur Stärkung der interkulturellen Kompetenz von Zahnärzt:innen und anderen medizinischen Fachkräften essentiell. Das Projekt IPIKA „Interprofessionelles und Interkulturelles Arbeiten in der Klinik“ ist eine Fortbildungsreihe zur Stärkung interkultureller und interprofessioneller Kompetenz für Ärzt:innen, Pflegekräfte und Sozialdienstmitarbeitende und ist seit 2020 Regelfortbildung in der Fortbildungsakademie der Charité. Auch das Projekt MiMi “Mit Migranten für Migranten” - Gesundheitsinitiative Deutschland bildet Gesundheitsmediator:innen aus, die als Multiplikator:innen agieren.
Sie leiten das MuMi Projekt zur „Förderung der Mundgesundheitskompetenz und Mundgesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund“. Wie ist es dazu gekommen und wie funktioniert diese Förderung?
Bereits seit 2012 beschäftige ich mich mit der Thematik “Mundgesundheit und Migration”. In ersten Untersuchungen zur Mundgesundheit von Immigrant:innen im Hamburger Raum konnten wir eine deutliche Diskrepanz in der Mundgesundheit zwischen älteren Personen mit und ohne Migrationsgeschichte beobachten. Gemeinsam mit Dr. Christopher Kofahl aus dem Institut für Medizinische Soziologie des UKE ist dann die Idee für das MuMi Projekt entstanden. Das Projekt wurde von 2018-2022 im UKE durchgeführt und vom G-BA mit rund 800.000 Euro gefördert.
Screenshot aus der App, die im MuMi Projekt am UKE entstanden ist.
Unser Ziel war es, die Mundgesundheitskompetenz bei Erwachsenen mit Migrationsgeschichte zu fördern. Denn die Mundgesundheitskompetenz ist ein entscheidender Faktor, um eine gute Mundgesundheit zu erreichen und aufrecht zu erhalten. Da fast alle ein Smartphone besitzen und ein extremer Anstieg in der Nutzung von Gesundheits-Apps verzeichnet wird, haben wir uns dafür entschieden, eine App zu entwickeln. Das Projekt zeigte großen Erfolg: Wir konnten zeigen, dass die App eine Wirkung zur Steigerung der Mundgesundheitskompetenz und Verbesserung in der Mundhygiene erzielt hat. Insbesondere Erwachsenen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und Personen, die einen niedrigen Ausgangswert in Ihrer Mundgesundheitskompetenz aufweisen, können von der App profitieren.
Auch bei anderen Altersgruppen sehen wir Bedarfe. Frühkindliche Karies etwa stellt eine der häufigsten chronischen Erkrankungen im Kleinkindalter dar und wird in ihren Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung der Zähne häufig unterschätzt. Insbesondere Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status oder mit Migrationsgeschichte erkranken häufiger. Vor allem bei frühkindlicher Karies sollte so früh wie möglich vorgebeugt werden. Daher ist das Einbeziehen von Eltern und werdenden Eltern essentiell. Hinzu kommt, dass Schwangere selbst durch vielseitige Veränderungen während der Schwangerschaft einem erhöhten Risiko von Schwangerschaftsgingivitis und möglicher daraus folgender Parodontitis ausgesetzt sind, was das Risiko für negative Schwangerschafts-Outcomes erhöhen könnte.
Als Nachfolgeprojekt ist deswegen am 1. Mai dieses Jahres das MuMi+ Projekt gestartet, das der G-BA mit 1,4 Millionen Euro fördert. Die App soll für Kinder, Jugendliche und Schwangere erweitert werden. Der Wunsch ist eine App „für Alle“, vom Mutterleib bis ins hohe Alter, zu haben.*
Menschen mit Migrationsgeschichte sind eine sehr heterogene Gruppe. Wie gehen Sie in den Untersuchungen damit und mit möglichen Störvariablen um?
In der MuMi-Studie fragen wir das eigene Geburtsland sowie das der Eltern ab. Zudem berücksichtigen wir weitere migrationsbezogene Determinanten wie etwa Sprachkenntnisse, Aufenthaltsdauer und Diskriminierungserfahrung. Außerdem fließen auch klassische soziodemografische Variablen wie Bildung, Einkommen und Haushaltsgröße in die Analysen ein. In unseren Analysen zum Zusammenhang von Migration und Mundgesundheit adjustieren wir immer für Störfaktoren. Außerdem führen wir aufgrund der Heterogenität der Zielgruppe Subgruppenanalysen durch, u.a. nach Herkunftsländern. Denn insbesondere bei einer migrations- und kultursensiblen Ansprache, in der Zahnarztpraxis oder in Präventionsprogrammen, ist die Berücksichtigung kultureller Unterschiede und die Abbildung kultureller Diversität wichtig. So haben wir beispielsweise in der MuMi App darauf geachtet, in Bild- und Videomaterialen Personen aus verschiedenen Herkunftsländern bzw. Kulturkreisen abzubilden. Auch bei dem Thema Ernährung werden Speisen aus verschiedenen Kulturkreisen dargestellt. Es wird außerdem ausschließlich einfache, laiengerechte sowie viel bildgebende Sprache verwendet und das Programm ist in insgesamt fünf Sprachen verfügbar.
Screenshot aus der App, die im MuMi Projekt am UKE entstanden ist.
Was braucht es noch, um die Ungleichheiten bei der Mundgesundheit und der Mundgesundheitskompetenz zu verringern?
Wir brauchen strukturelle wie individuelle Ansätze. Auf Systemebene sollten finanzielle Ressourcen für Präventionsprogramme bereitgestellt werden. Auf individueller Ebene ist es zentral, Sprachbarrieren abzubauen, Wissen über das deutsche Gesundheitssystem zu fördern und die Mundgesundheitskompetenz zu steigern.
Da die MuMi-App derzeit überarbeitet wird, ist sie vorübergehend nicht in den App-Stores verfügbar. Sie steht voraussichtlich ab 2026 wieder zum Download bereit.