Wurzelkaries ist eine unmittelbar bevorstehende Epidemie
Carmen BornflethEs ist heute wichtiger denn je, die natürlichen Zähne Ihrer Patienten zu erhalten – am besten durch Vorbeugung von Karies und Behandlung von Wurzelkaries. Prof. Roland Frankenberger von der Philipps-Universität Marburg verrät im Interview mehr dazu.
Von Wurzelkaries sind vor allem Erwachsene mittleren Alters und ältere Menschen betroffen. Diese Bevölkerungsgruppe ist besonders anfällig für orale Erkrankungen wie Karies, Zahnfleischinfektionen und Zahnfleischtraumata sowie für Gingivarezessionen und daraus resultierende freiliegende Wurzeloberflächen. Diese sind dann Umwelt-, Verhaltens- und anderen Faktoren ausgesetzt, die Karies verursachen.
Prof. Dr. med. dent. R. Frankenberger ist Direktor der Abteilung für Zahnerhaltungskunde am Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Philipps-Universität Marburg. Er hat sich einen Namen gemacht durch seine außergewöhnlichen Leistungen in Forschung, Ausbildung und klinischer Praxis. Seine Forschungs-interessen sind vielfältig und liegen schwerpunktmäßig im Bereich der Kariologie, der klinischen Ausbildung und restaurativen Materialien.
Wie hoch ist die Prävalenz von Wurzelkaries in Deutschland und in Europa?
R. Frankenberger: Die Prävalenz liegt bei 20 ‑ 40 %. In den höheren Altersgruppen ist aufgrund von Zahnverlust ein leichter Rückgang zu verzeichnen. In den letzten 20 Jahren ist die Prävalenz allerdings um ein Vielfaches angestiegen, ebenso wie der Schweregrad. Diese Eskalation ist auf erhebliche demografische Verschiebungen und insbesondere auf die verheerenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zurückzuführen. Besonders ältere und schutzbedürftige Patienten hatten Angst vor den geplanten Zahnarztterminen. Einige Patienten stellten sich zwei Jahre lang nicht mehr beim Zahnarzt vor.
Etliche von denen, die dann doch zurückkehrten, litten unter enormen Problemen mit progredierender Wurzelkaries. Das ist ein großes klinisches Problem, das dringend gelöst werden muss. Es beginnt bei der Vorbeugung oder zumindest mit der Kontrolle des pH-Werts und wird nicht einfacher, wenn es um die Restauration dieser Läsionen geht.
Es gibt die Auffassung, dass Wurzelkaries keine altersbedingte Erkrankung ist, sondern vielmehr eine Erkrankung der freiliegenden Wurzeloberflächen. Welche Evidenz gibt es für diesen Ansatz?
R. Frankenberger: In einem kürzlich von uns veröffentlichten Artikel haben wir genau diese Feststellung getroffen. Die Daten aus Deutschland belegen diese Schlussfolgerung. Es ist offensichtlich, dass im höheren Alter relativ mehr Wurzelflächen exponiert sind. Daher kann man von einer indirekten Korrelation mit dem Alter ausgehen. Die Zahlen der Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS) zeigen eindeutig, dass die Inzidenz von Wurzelkaries in der Altersgruppe zwischen 45 und 64 Jahren von 12 auf 28 % ansteigt. Mit 75 und mehr Jahren bleibt sie dann stabil bei über 25 %. Dabei ist zu beobachten, dass die Werte bei männlichen Patienten höher ausfallen. Wie ich bereits erwähnt habe, hängt dies hauptsächlich mit der abnehmenden Anzahl der Zähne zusammen, je älter wir werden.
Welchen Einfluss hat die Struktur des Wurzeldentins auf die Kariesanfälligkeit?
R. Frankenberger: Im Vergleich zum menschlichen Zahnschmelz ist die Oberfläche des Dentins deutlich anfälliger für Demineralisierung. Die erhöhte Durchlässigkeit dieses Gewebes und das Fehlen einer zusätzlichen starken Oberflächenschicht tragen dazu bei, dass die Wurzeloberfläche leicht angreifbar ist. Auch die schützende Wirkung der Papille wurde bisher weit unterschätzt. Hinzu kommt, dass Fluorid auf Dentinoberflächen im Vergleich zu Schmelzoberflächen deutlich weniger wirksam ist.
Weitere wichtige Faktoren sind die Ernährung und die Mundhygiene. Wussten Sie, dass der Geschmackssinn – insbesondere die Wahrnehmung für Süßes – mit zunehmendem Alter deutlich schwächer wird? Und was sehen Sie die Menschen in einer Einrichtung für betreutes Wohnen oder einem Pflegeheim gern essen und trinken? Kuchen, Kekse, Süßigkeiten, Tee und Kaffee. Wer könnte es den älteren Menschen verdenken?
Die Auswirkungen auf die Wurzelkaries sind also enorm. Wie steht es um die Mundhygiene?
R. Frankenberger: In vielen Fällen beobachte ich Anzeichen für eine nachlassende orale Pflege, die sich sowohl in der Kleidung als auch im Gesichtsausdruck des Patienten widerspiegeln. Männer, die sich nur unregelmäßig rasieren oder Kleidung mit Reißverschlüssen anstelle von Knöpfen tragen, lassen verminderte manuelle Geschicklichkeit erkennen. Auch die Fähigkeit, sich die Zähne richtig zu putzen, nimmt mit dem Alter ab.
In letzter Zeit habe ich mehrfach Vorträge im Rahmen eines Projekts für Bewohner von Einrichtungen des betreuten Wohnens gehalten. Die Vorträge dauern in der Regel eine Stunde, doch die anschließende Diskussion erstreckt sich oft über weitere 30 oder sogar 60 Minuten. Das Interesse und die Nachfragen der Teilnehmer sind enorm. Es ist offensichtlich, dass sie die entscheidende Bedeutung und die richtigen Techniken der Selbstfürsorge nicht verstanden haben. Ihnen ist nicht klar, dass Zahnseide nutzlos ist, dass Fluorid großzügig aufgetragen werden sollte, dass Zahnpasta nicht abgespült werden darf und dass Interdentalbürsten für ältere Menschen unverzichtbar sind – um nur einige wichtige Punkte zu nennen.
Welche histologischen Veränderungen treten in den Anfangsstadien der Wurzelkaries auf? Wie unterscheiden sich diese Veränderungen von denen, die bei Schmelzkaries beobachtet werden?
R. Frankenberger: Das Wurzeldentin ist ein vitales Gewebe mit einem Mineralgehalt von 70 %. Aufgrund seiner tubulären Struktur ist es relativ durchlässig und kann von Bakterien leicht durchdrungen werden. Wurzelkaries entsteht unter einem kariogenen Biofilm, wenn Säuren die Dentinoberfläche angreifen und sie demineralisieren. Die Mineralien werden ausgelöst, und der organische Anteil, der hauptsächlich aus Kollagen besteht, bleibt an der Oberfläche zurück. Diese Strukturen werden dann jedoch enzymatisch abgebaut.
Dentin ist aufgrund kleinerer Kristallite und höherer Durchlässigkeit anfälliger für Demineralisierung als Schmelz. In der Anfangsphase sehen wir eine Läsion mit einer pseudo-intakten Oberfläche, die der Schmelzkaries ähnelt. Allerdings erfolgt hier eine schnellere bakterielle Invasion. Im Dentin verläuft die Kariesentwicklung grundlegend anders als im Zahnschmelz. Der Schmelz ist hoch mineralisiert und nicht vital. Er remineralisiert sich außerdem viel leichter mit Fluoriden. Um Wurzelkaries zu verhindern, muss Fluorid hier in deutlich höheren Dosen verabreicht werden.
Was sind die Herausforderungen bei der Behandlung von Wurzelkaries?
R. Frankenberger: Vor zwei Jahren habe ich an meinem Fachbereich eine außerordentliche Professur mit dem Titel „Kariologie des Alterns“ eingerichtet. Dafür konnte ich Prof. Dr. Carolina Ganss von der Universität Gießen gewinnen. Sie ist die Expertin für Kariesprävention und Chefredakteurin der führenden Zeitschrift Caries Research. Unser Ansatz ist, dass wir immer mit der Prävention beginnen und uns dann bemühen, die aktive Läsion zu stoppen. In vielen Fällen geht es dabei aber auch primär um eine Restauration. Ich möchte jedoch klarstellen, dass es nicht zielführend ist, das Thema ausschließlich von der restaurativen Seite anzugehen. Unsere Generation wurde im Glauben an besonders langlebige Restaurationen „großgezogen“. Unsere Professoren haben uns eingetrichtert, dass Präzision gleichbedeutend mit ewiger Haltbarkeit ist. Aber das ist ein Märchen. Das zeigen meine Erkenntnisse aus zahlreichen klinischen Studien. Und bei Wurzelkaries ist es noch schlimmer: Wenn man nur restauriert – und selbst mit der perfekten Restauration der Welt – wird man scheitern, weil man die Dysbiose des Patienten ignoriert. Es ist so: Wenn die letzte Füllung gelegt ist, kann man wieder von vorn anfangen. So sieht es bei der Wurzelkaries aus.
Warum ist Prävention so wichtig, und wie kann man sie mit älteren Personen angehen (z. B. Einbeziehung von Pflegepersonen, Anpassen von Recalls)?
R. Frankenberger: Die Prävention stellt uns vor erhebliche Herausforderungen. Kennen Sie den Satz „Es liegt kein Ruhm in der Prävention“? Es ist überall das Gleiche: Wir geben Milliarden für Herzoperationen aus, aber wie viele gute Präventionsprogramme haben wir eigentlich?
In der Zahnmedizin sieht es zum Glück besser aus. In Deutschland haben wir in den letzten 30 Jahren 50 % weniger Füllungen gelegt. Das bedeutet, dass die Kariologie die erfolgreichste Präventionsdisziplin unter allen medizinischen Fächern ist.
Wenn wir uns jedoch auf die Pflegekräfte konzentrieren, sieht man, dass sie in Sachen Mundhygiene nicht sehr gut ausgebildet sind. Und das ist wirklich schade. Eigentlich sollte doch in jeder Pflegeeinrichtung ein Zahnarztstuhl stehen, oder? Unsere Vorgehensweise ist folgende: Wir verkürzen die Terminabstände auf drei Monate; wir tragen Fluoridlack auf und verschreiben Duraphat-Zahnpasta mit 5.000 ppm Fluorid.
Unser neuester Clou im Wurzelkariesprogramm sind die 3D-Scans des angefärbten Biofilms, die den Patienten zeigen, wo genau die Unzulänglichkeiten sind. Wir haben mit einem Pilotprojekt begonnen und dieses ist inzwischen ein grundlegender Bestandteil der Ausbildung, weil es sich als nützlich erwiesen hat. Allerdings nur bei Patienten, die noch in der Lage sind, die Zahnbürste zu halten.
Was sind die Voraussetzungen für eine suffiziente Wurzelkariesbehandlung?
R. Frankenberger: Wenn es uns gelingt, die aktive Läsion in eine gestoppte Läsion zu überführen, wird alles einfacher – Isolierung, Restauration, Prognose. Alle anderen wichtigen Aspekte habe ich bereits erwähnt.
Welche restaurativen Behandlungsmöglichkeiten gibt es, und welche bevorzugen Sie?
R. Frankenberger: Ich ziehe immer den adhäsiven Ansatz vor, keine Frage. Wenn ich das Operationsfeld angemessen isolieren kann, gibt es keinen Grund, sich nicht für Komposit zu entscheiden. Wenn ich nicht isolieren kann, kann ich dann wirklich annehmen, dass ein Zement ein einzigartiges Ergebnis liefern wird? Zugegeben, es gibt einen kleinen Unterschied in der Anwendungszeit und damit im Kontaminationsfenster, aber Sie verstehen, worauf ich hinaus will.
Dennoch sind Glasionomere ein wichtiges Material, denn sie sind die perfekte Lösung für verschiedene Erste-Hilfe-Situationen. Mit ihnen lassen sich Wurzeln abdecken, Zeit gewinnen, Überempfindlichkeiten lindern und die Mundhygiene erleichtern. Und nicht zuletzt: Ich kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass unser Lebenszyklus manchmal etwas verrückt ist.
Als klassischer Hauszahnarzt behandle ich Patienten im Alter von 3 bis 97 Jahren. Dabei habe ich gelernt, dass die Behandlung am Anfang und am Ende des Lebens sich in vielerlei Hinsicht sehr, sehr ähnlich ist. Silberdiaminfluorid (SDF) ist hier oft der letzte Ausweg. Ich betreue einige Alzheimer-Patienten, und ich kann Ihnen versichern, dass SDF die einzige Behandlungsmöglichkeit ist, weil es Karies sofort stoppt. Noch einmal: Es ist genau dasselbe wie bei einem Dreijährigen.
Wie ist der derzeitige Stand der wissenschaftlichen Evidenz zur Behandlung von Wurzelkaries? Gibt es neuere Forschungsarbeiten?
R. Frankenberger: Unsere landesweite Untersuchung hat etliches an Evidenz erbracht. Wurzelkaries ist in der Zahnmedizin das, was Typ-II-Diabetes in der Gastroenterologie ist: eine unmittelbar bevorstehende Epidemie. Unser neuer Fachbereich „Kariologie des Alterns“ arbeitet bereits auf Hochtouren. In diesem Jahr werden mindestens fünf neue Arbeiten zu unserem Marburger Wurzelkarieskonzept erscheinen, und ich bin schon sehr gespannt. Ein noch viel wichtigerer Akteur auf diesem Gebiet ist Professor Falk Schwendicke von der Universität München, der wie üblich mit voller Kraft in ein neues Gebiet – das der Gerodontologie – einsteigt.
Tipps von Prof. Frankenberger zur Restauration von Wurzelkaries
Wurzelkaries ist oft – zumindest leicht – subgingival. Jedes rotierende Instrument provoziert Blutungen in der Gingiva. Daher setze ich oft oszillierende Instrumente wie SONICsys (Planmeca, Helsinki, Finnland) zum Exkavieren ein.
Metallmatrizen wie Tofflemires sind sehr hilfreich, wenn Sie eine steife Matrize benötigen, um sie in subgingivale Bereiche zu drücken. Man muss sie mit dem Finger festhalten, aber dies funktioniert sehr gut, auch in Fällen, in denen es zunächst unmöglich erscheint.
Fließfähige Komposite sind für mich unverzichtbar bei Wurzelkariesläsionen. Manchmal nehme ich normale Flowables, aber häufiger bevorzuge ich injizierbare Produkte (z. B. G-ænialTM Universal Injectable von GC), wenn das Material in enge Bereiche injiziert werden muss.
Bei approximalen Defekten ist es sinnvoll, eine Frasaco-Matrize anzulegen und ein kleines Loch hineinzubohren, um das Komposit zu injizieren.
Eine weitere spannende Technik ist die Proximal Box Elevation (PBE) oder Anhebung tiefer Kavitätenränder (Deep Marginal Elevation, DME). Ich bevorzuge den ersten Begriff, weil ich der erste war, der ihn in einer Veröffentlichung benutzt hat: Ich beginne mit einer individuellen dünnen Tofflemire-Matrize, die sich leicht in den Sulkus einbringen lässt. Als Nächstes kommt ein Universaladhäsiv wie G-Premio BOND (GC) zum Einsatz, um mit einem Flowable eine erste Stufe der approximalen Box zu schaffen. Anschließend entfernen wir die erste Matrize, bearbeiten das Komposit und die verbleibenden Ränder mit Diamanten und SONICsys (Planmeca), legen Kofferdam und eine Teilmatrize (Poly-dentia, Mezzovico-Vira, Schweiz) an und arbeiten mit der künstlichen proximalen Box.
Hier gibt es noch mehr Informationen zu Behandlungslösungen bei Wurzelkaries:
GC International AG | Home | GC
Referenzen:
1. German Oral Health Study (DMS). https://www.bzaek.de/ueber-uns/daten-und-zahlen/deutsche-mundgesundheitsstudie-dms.html