Wann müssen Arbeitgeber Überstunden bezahlen?
Judith Meister und Marzena SickingMehrarbeit im Praxisbetrieb ist oft nicht zu vermeiden. Eine Vergütung für Überstunden können Arbeitnehmer aber nicht in jedem Fall beanspruchen. Was Praxisinhaber und Mitarbeiter wissen müssen.
Typische Überstundensituationen in der Zahnarztpraxis
Eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Schmerzpatienten, ein Kleinkind, das kurz vor Praxisschluss mit einem ausgeschlagenen Zahn kommt, oder eine neue Praxissoftware, deren Handhabung noch Probleme bereitet – es gibt viele Gründe, warum in einer Zahnarztpraxis die reguläre Arbeitszeit überschritten werden muss. Der rechtssichere Umgang mit diesen Situationen ist für Praxisinhaber wie Mitarbeiter gleichermaßen wichtig.
Häufig findet sich in Arbeitsverträgen aber auch Klauseln, wonach „etwaige Überstunden mit dem regulären Gehalt des Arbeitnehmers abgegolten sind“. Das klingt nach einer arbeitgeberfreundlichen Lösung. Allerdings sind solche Formulierungen in der Regel das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt sind. Denn zumindest die pauschale Abgeltung von Überstunden mit dem Festgehalt hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits gekippt (Az.: 5 AZR 517/09).
Rechtliche Grundlagen für Überstunden und Mehrarbeit
Zunächst ist zwischen verschiedenen Begriffen zu unterscheiden:
Mehrarbeit bezeichnet jede Arbeit, die über die individuell vereinbarte Arbeitszeit hinausgeht.
Überstunden im engeren Sinne sind Arbeitsstunden, die über die regelmäßige Arbeitszeit (meist 40 Stunden pro Woche) hinausgehen.
Damit Praxisinhaber ihre Belegschaft zu Überstunden verpflichten können, bedarf es einer rechtlichen Grundlage. Die meisten Standardarbeitsverträge enthalten daher eine Klausel, die den Arbeitgeber ermächtigt, bei betrieblichem Bedarf Mehrarbeit anzuordnen. Dies ist grundsätzlich zulässig, unterliegt aber klaren Grenzen.
Vergütungspflicht: Wann müssen Überstunden bezahlt werden?
Für die Vergütungspflicht von Überstunden gelten folgende Grundsätze:
Gesetzliche Ausgangslage: Gemäß § 612 BGB besteht ein Vergütungsanspruch, wenn die Arbeitsleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. Bei Überstunden ist dies grundsätzlich der Fall.
Voraussetzungen für eine Vergütungspflicht: Die Mehrarbeit wurde vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet, es besteht keine wirksame vertragliche Regelung, die die Vergütung ausschließt und: Die Mehrarbeit war betrieblich veranlasst und notwendig.
Anordnung, Duldung, Billigung: Angeordnet sind Überstunden, wenn der Arbeitgeber sie ausdrücklich verlangt. Gebilligt sind sie, wenn der Arbeitgeber sie nachträglich akzeptiert. Geduldet sind Überstunden, wenn der Arbeitgeber sie kennt und nicht dagegen einschreitet.
Abgeltungsklauseln: Was ist zulässig, was nicht?
Wie die Erfurter Richter entschieden, sind Überstunden-Abgeltungsklauseln, die schwammig und unpräzise formuliert sind, intransparent und damit unwirksam. Sieht der Arbeitsvertrag also vor, dass „üblicherweise anfallende Überstunden“, „Mehrarbeit im üblichen Umfang“ oder „Überstunden in einem angemessenen Rahmen“ mit dem Gehalt abgegolten sind, sind diese Klauseln in der Regel unwirksam.
Das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) jedenfalls in mehreren Entscheidungen klargestellt:
Pauschale Abgeltungsklauseln sind unwirksam (BAG, Urteil vom 01.09.2010, Az. 5 AZR 517/09): Schwammige Formulierungen wie „üblicherweise anfallende Überstunden“, „Mehrarbeit im üblichen Umfang“ oder „Überstunden in einem angemessenen Rahmen“ genügen nicht dem Transparenzgebot. Bei unwirksamen Klauseln haben Arbeitnehmer Anspruch auf zusätzliche Vergütung oder Freizeitausgleich.
Aktuelle Rechtsprechung zu Abgeltungsklauseln (BAG vom 01.09.2021, Az. 5 AZR 352/20): Abgeltungsklauseln müssen klar erkennen lassen, welche konkrete Mehrarbeit mit dem Gehalt abgegolten sein soll. Die Zahl der abzugeltenden Überstunden muss präzise benannt werden. Es muss erkennbar sein, welcher Teil des Gehalts als Gegenleistung für die Mehrarbeit anzusehen ist.
(Nur) die pauschale Abgeltung von Überstunden ist in der Regel unwirksam
Das bedeutet allerdings nicht, dass Abgeltungsklauseln grundsätzlich ins Leere laufen oder verboten sind. Zulässige Formulierungen können beispielsweise sein:
„Mit dem Gehalt sind bis zu 10 Überstunden pro Monat abgegolten.“
„Überstunden im Umfang von bis zu 10% der vereinbarten Wochenarbeitszeit sind mit dem Gehalt abgegolten.“
Auch klar formulierte Regelungen können jedoch unwirksam sein, wenn sie Arbeitnehmer unangemessen benachteiligen. Die Gerichte entscheiden im Einzelfall, ob eine solche Benachteiligung vorliegt. Dabei berücksichtigen sie das Verhältnis zwischen Grundvergütung und abzugeltenden Überstunden.
Aktuelle Rechtsprechung: LAG Mecklenburg-Vorpommern
Ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern ( Az.: 2 Sa 26/21)gibt Orientierung: Im konkreten Fall hatte ein Arbeitnehmer mit einer 40-Stunden-Woche und einem Bruttomonatsgehalt von 1.800 Euro seinen Arbeitgeber auf Vergütung von knapp 90 Überstunden verklagt. Sein Arbeitsvertrag enthielt eine Regelung, nach der bis zu zehn Überstunden mit der monatlichen Grundvergütung abgegolten waren.
Das LAG entschied, dass diese Klausel wirksam ist, da:
sie nicht überraschend war
den Arbeitnehmer nicht unangemessen benachteiligte
klar formuliert war und einen konkreten Umfang nannte
unter Berücksichtigung des Gehalts nicht zu einer Unterschreitung des Mindestlohns führte
Arbeitsschutzrechtliche Grenzen beachten
Unabhängig von der Vergütungsfrage müssen Arbeitgeber die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) einhalten:
Maximal 10 Stunden Arbeitszeit pro Tag (§ 3 ArbZG)
Mindestens 11 Stunden Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen (§ 5 ArbZG)
Dokumentationspflicht der Arbeitszeit (§ 16 ArbZG)
Seit dem EuGH-Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18) und der folgenden BAG-Entscheidung vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) sind Arbeitgeber verpflichtet, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Dies erleichtert auch den Nachweis geleisteter Überstunden erheblich.
Sonderfall: Höher qualifizierte Mitarbeiter und Führungskräfte
Keinen Anspruch auf eine Vergütung ihrer Überstunden haben hingegen Arbeitnehmer, die ein Gehalt jenseits der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erzielen. Wer im Jahr 2025 also mehr als 96.600 Euro brutto pro Jahr verdient (89.400 Euro im Osten), muss, wenn es erforderlich und angeordnet ist, auch ohne Vergütung länger arbeiten (vgl. BAG, 22.02.2012, Az. 5 AZR 765/10).
Bei der Vergütung von Überstunden gibt es also Unterschiede je nach Position und Gehaltshöhe:
Angestellte Zahnärztinnen und Zahnärzte: Bei ihnen kann vertraglich vereinbart werden, dass Überstunden mit einem entsprechend höheren Gehalt abgegolten sind. Dies ist jedoch nicht automatisch der Fall. Anders als im Artikel ursprünglich dargestellt, knüpft die Rechtsprechung die Vergütungspflicht nicht an die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung.
Leitende Angestellte: Für sie gelten Sonderregelungen. Sie sind vom Arbeitszeitgesetz ausgenommen (§ 18 ArbZG) und müssen in der Regel Mehrarbeit ohne zusätzliche Vergütung leisten, wenn dies vertraglich so vereinbart ist.
Für alle Arbeitnehmer gilt: Die Vergütungspflicht hängt nicht pauschal vom Gehalt ab, sondern von der vertraglichen Gestaltung. Auch bei höheren Gehältern muss die Abgeltung von Überstunden transparent und angemessen geregelt sein.
Alternativen zur Vergütung: Freizeitausgleich und Arbeitszeitkonten
Überstunden müssen nicht zwingend vergütet werden. Alternativen sind:
Freizeitausgleich: Überstunden können durch entsprechende Freizeit ausgeglichen werden. Überstunden können durch entsprechende Freizeit ausgeglichen werden. Für den Ausgleichszeitraum gibt es keine gesetzliche Vorgabe, typisch sind 3-6 Monate.
Arbeitszeitkonten: Besonders in Zahnarztpraxen mit schwankendem Patientenaufkommen sinnvoll. Regelung durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung notwendig. Klare Vorgaben zu Höchstgrenzen, Ausgleichszeiträumen und Verfall sind wichtig.
FAQ: Überstunden in der Zahnarztpraxis
1. Müssen Überstunden immer angeordnet werden, oder können sie auch stillschweigend entstehen?
Überstunden können auch durch Duldung oder Billigung entstehen. Wenn der Praxisinhaber weiß oder erkennen kann, dass Mitarbeiter regelmäßig länger arbeiten und nicht einschreitet, können vergütungspflichtige Überstunden entstehen. Empfehlung: Klare Regelungen treffen, wann und wie Überstunden genehmigt werden müssen.
2. Wie können Überstunden in der Zahnarztpraxis rechtssicher dokumentiert werden?
Idealerweise durch ein elektronisches Zeiterfassungssystem. Alternativ durch schriftliche Aufzeichnungen, die vom Vorgesetzten abgezeichnet werden. Wichtig ist die Dokumentation von Beginn, Ende und Pausen der täglichen Arbeitszeit gemäß aktueller Rechtsprechung.
3. Dürfen Arbeitnehmer Überstunden verweigern?
Grundsätzlich ja, wenn keine vertragliche Verpflichtung besteht oder die Anordnung unbillig ist. In Notfällen (z.B. akute Patientenversorgung) kann jedoch eine Verpflichtung aus der arbeitsvertraglichen Treuepflicht entstehen. Bei regelmäßig anfallenden Überstunden sollte die Personalplanung angepasst werden.
4. Wie lange können Arbeitnehmer rückwirkend Überstundenvergütung fordern?
Ansprüche auf Überstundenvergütung unterliegen der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB). Arbeitsverträge und Tarifverträge können jedoch kürzere Ausschlussfristen vorsehen (typischerweise 2-3 Monate für die Geltendmachung).
5. Gelten für Teilzeitkräfte besondere Regelungen bei Überstunden?
Ja. Bei Teilzeitkräften sind alle Stunden über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus Mehrarbeit. Nach § 4 Abs. 1 TzBfG haben sie Anspruch auf den gleichen Stundenlohn wie Vollzeitkräfte. Zuschläge für Überstunden können jedoch an das Überschreiten der regulären Vollzeitarbeitszeit geknüpft werden.
6. Wie wirken sich Überstunden auf den Mindestlohn aus?
Auch bei Pauschalabgeltungsklauseln darf der gesetzliche Mindestlohn nicht unterschritten werden. Bei der Berechnung werden alle tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden berücksichtigt. Die Gesamtvergütung geteilt durch alle Arbeitsstunden (inkl. Überstunden) muss mindestens dem aktuellen Mindestlohn entsprechen.
7. Können angestellte Zahnärzte/innen Überstundenvergütung verlangen?
Grundsätzlich ja, es sei denn, der Arbeitsvertrag enthält eine wirksame Abgeltungsklausel. Anders als häufig angenommen, gibt es keine gesetzliche Regelung, die höher qualifizierten Mitarbeitern oder Besserverdienenden automatisch den Anspruch auf Überstundenvergütung verwehrt.
8. Was passiert mit nicht genommenen Überstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses?
Nicht durch Freizeit ausgeglichene Überstunden müssen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich ausgezahlt werden, sofern sie nicht unter eine wirksame Abgeltungsklausel fallen oder verjährt sind.
9. Wie kann eine Zahnarztpraxis Überstunden reduzieren?
Durch effektive Praxisorganisation (optimierte Terminvergabe, Pufferzeiten für Notfälle), klare Zuständigkeiten, ausreichende Personaldecke und ggf. flexible Arbeitszeitmodelle. Regelmäßige Analyse der Arbeitsbelastung hilft, Engpässe frühzeitig zu erkennen.
10. Dürfen Praxisinhaber pauschale Überstundenvergütungen zahlen?
Ja, pauschale Vorauszahlungen für zu erwartende Überstunden sind möglich, sollten aber regelmäßig mit den tatsächlich geleisteten Überstunden abgeglichen werden. Unterschreitet die Pauschale die tatsächlich geleisteten vergütungspflichtigen Überstunden, ist die Differenz nachzuzahlen.
Hinweis: Dieser Artikel bietet allgemeine Informationen und ersetzt keine individuelle rechtliche Beratung. Bei konkreten arbeitsrechtlichen Fragen wenden Sie sich bitte an einen Fachanwalt für Arbeitsrecht.