Sind parodontale Erkrankungen stille Erkrankungen?
Prof. Dr. med. dent. Clemens WalterWelchen Einfluss hat Parodontitis in verschiedenen Stadien auf die Lebensqualität? Sind parodontale Erkrankungen stille Erkrankungen? Prof. Dr. Clemens Walter stellt eine systematische Übersichtsarbeit vor, die sich diesen Fragestellungen widmet.
Wie lässt sich eine Beeinträchtigung der mundbezogenen Lebensqualität ermitteln?
Funktionelle oder psychologische Beeinträchtigungen sowie Schmerz können Symptome parodontaler Erkrankungen sein. Art und Umfang dieser krankheitsspezifischen Einschränkungen lassen sich über eine Erfassung der mundbezogenen Lebensqualität quantifizieren. Mitunter erscheint es verwunderlich, wie weit die parodontale Erkrankung bei dem einen oder anderen Patienten bereits fortgeschritten ist, ohne dass eine Beeinträchtigung empfunden wird.
Die parodontale Wundfläche ist mittlerweile zufriedenstellend über eine Berechnung der Ausdehnung der Entzündung anhand der standardmäßig erhobenen klinischen Parameter Sondierungstiefe und Blutung auf Sondierung über den sogenannten PISA-score darstellbar. Entzündete Areale von mehreren 100 bis > 1.000 mm2 sind da nicht ungewöhnlich und bei fortgeschrittenen parodontalen Erkrankungen auch schnell erreicht. Vergleichbare entzündete Flächen würden bei ihrem Auftreten in anderen Körperregionen wohl längst – aufgrund des in aller Regel vorhandenen Leidensdruckes – einer adäquaten Therapie zugeführt worden sein. Da stellt sich die Frage, sind parodontale Erkrankungen stille Erkrankungen und anhand welcher Parameter lässt sich eine Beeinträchtigung der mundbezogenen Lebensqualität erfassen?
Systematische Übersichtsarbeit zu Parodontitis und mundbezogener Lebensqualität
Es wurden zwei fokussierte Forschungsfragen entsprechend der PECO- Kriterien gestellt (PECO = Population, Exposition, Comparison (Vergleich), Outcome (Zielgröße/analysierter Parameter) gestellt:
Welchen Einfluss hat das Vorhandensein einer Parodontitis (E) im Vergleich zur Abwesenheit von Parodontitis (C) auf die mundbezogene Lebensqualität (O) bei Erwachsenen (P)?
Welchen Einfluss haben die Parodontitisstadien III und IV im Vergleich zu den Parodontitisstadien I und II auf die mundbezogene Lebensqualität bei Erwachsenen?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurde das Design einer systematischen Übersichtsarbeit entsprechend der derzeit aktuellen Qualitätsstandards gewählt. Neben der Suche der relevanten Literatur anhand klar definierter Ein- und Ausschlusskriterien (z. B. klare Definitionen von Parodontitis und mundbezogener Lebensqualität) in hier fünf elektronischen Datenbanken bedeutete dies auch eine Bewertung der methodologischen Qualität und der Sicherheit der vorhandenen Quellen.
Reduzierte mundbezogene Lebensqualität bei Patienten mit Parodontitis
Von den anfänglich 12.439 identifizierten Treffern konnten nach einem stufenweisen Auswahl- und Bewertungsprozess schlussendlich 60 Studien, die eine hohe Heterogenität aufwiesen, eingeschlossen werden. Insgesamt lagen somit die Daten von 14.851 Individuen vor. 48,3 % der Studien wiesen ein hohes Risiko für systematische Fehler und studienbedingte Verzerrungen auf. Die Ergebnisse der einzelnen Studien wurden mit Hilfe von Meta-Analysen zusammengefasst.
33 Studien lieferten Daten zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage. Demnach konnte eine hochsignifikante Assoziation zwischen einer Parodontitis und einer reduzierten mundbezogenen Lebensqualität gezeigt werden. Wesentliche Beeinträchtigungen werden dabei durch parodontitisbedingte Schmerzen, funktionelle Einschränkungen und psychologische Faktoren hervorgerufen.
Acht Studien standen für Frage 2 zur Verfügung. Die Analyse zeigte eine Art Dosis-Wirkungsbeziehung und fand Hinweise, dass Patienten mit den Parodontitis-Stadien III und IV – auch unter Berücksichtigung etwaiger Begleiterkrankungen – im Vergleich zu solchen mit den Stadien I und II eine eingeschränktere Lebensqualität aufweisen.
Klinische Schlussfolgerungen: Patienten regelmäßig auf Anzeichen parodontaler Erkrankungen screenen
Die hier zusammengefassten Daten mehrerer Studien zeigen deutlich, dass eine parodontale Erkrankung die mundbezogene Lebensqualität beeinträchtigen kann. Vor dem Hintergrund der klinischen Erfahrung und der hohen Prävalenz parodontaler Erkrankungen scheint der Leidensdruck durch eine bestehende Parodontitis aber erst bei einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, eventuell bereits gekennzeichnet durch Zahnlockerung, ästhetische Probleme oder Halitosis, so hoch zu sein, dass durch die Betroffenen selbst nach Linderung gesucht wird.
Als Schlussfolgerung ergibt sich daraus die Notwendigkeit des regelmäßigen Screenings aller Patienten auf Anzeichen parodontaler Erkrankungen. Dies ist beispielsweise durch die geregelte Erhebung des Parodontalen Screening Indexes mindestens alle zwei Jahre gut möglich. Wichtig ist jedoch auch hier, dass dem Betroffenen das Ergebnis und die daraus abzuleitenden Konsequenzen in verständlicher Sprache erklärt werden. Zu überlegen wäre ferner, ob nicht im Rahmen der ohnehin regelmäßig erhobenen medizinischen Anamnese, Fragen, welche die mundbezogene Lebensqualität betreffen, implementiert werden könnten. Zur Identifizierung und Sensibilisierung der Patienten, aber auch als möglicher Einstieg in weiterführende anamnestische Gespräche, wäre dies sicher zuträglich.